Wenn Scrum die Puste auszugehen droht
Für viele Teams, vor allem in der Softwareentwicklung, ist das Arbeiten nach Scrum heutzutage Alltag. Es kann aber vorkommen, dass sich die Rituale mit der Zeit abnutzen und sich eine gewisse Monotonie einstellt. Das wirkt sich auch negativ auf die Motivation und damit die Produktivität der Beteiligten aus. Was liegt da näher, als Scrum mit weiteren Methoden zu kombinieren?
Let Scrum meet Liberating Structures!
Mit Liberating Structures die Menschen wieder beteiligen und einbeziehen
Der Grundgedanke hinter Liberating Structures ist, dass Menschen einen besseren Job machen, zufriedener sind, mehr Ideen haben und ihre Kreativität ausleben können, wenn sie sich in Teams und Gruppen einbezogen und beteiligt fühlen. Und genau auf diese Einbindung und Beteiligung sind die 33 Mikrostrukturen ausgelegt, die Keith McCandless und Henri Lipmanowicz bisher in ihrer Sammlung zusammengetragen haben. Diese sind kostenlos im Internet verfügbar.
Die Methoden sind in sechs Kategorien unterteilt und jeweils so aufgebaut, dass sie einen Rahmen für die Arbeit in der Gruppe geben. Die Kategorien sind Offenlegen, Teilen, Analysieren, Strategien entwerfen, Helfen und Planen. Alle Methoden sind dabei nach dem gleichen Prinzip aufbereitet. Zunächst erfährt man, was durch den Einsatz ermöglicht wird. Anschließend folgt eine Anleitung in den immer gleichen fünf Schritten. Und zum Schluss werden der Sinn und Zweck, Tipps und Stolperfallen sowie Variationen und Beispiele bereitgestellt.
Scrum meets Liberating Structures
Wie also können sich nun Scrum und Liberating Structures sinnvoll ergänzen? Zunächst einmal gilt es, herauszufinden, in welchem Event die Liberating Structures eingesetzt werden sollen. Wird das Daily vom Scrum Team als überflüssig empfunden? Stellen in der Review immer die gleichen Personen etwas vor? Kommen in der Retrospektive die wirklichen Knackpunkte nicht zur Sprache? Wird im Planning regelmäßig zu viel oder zu wenig für den nächsten Sprint geplant? Und wie läuft die tägliche Zusammenarbeit?
Deutlicher wird dies an einem Beispiel. Nehmen wir einmal an, ein Scrum Team arbeitet erst kurze Zeit zusammen, und das auch noch komplett remote. Die ersten Sprintziele wurden mehr oder weniger erfolgreich erreicht und der Austausch in den regelmäßigen Events läuft eher schleppend. In den Retrospektiven gibt sich der Scrum Master alle erdenkliche Mühe, das Team zu aktiveren und ins tiefere Gespräch zu kommen. Auf den ersten Blick bringen sich zwar alle ganz gut ein: Jede:r schreibt auf, was gut und was weniger gut lief, was die Erfüllung des Sprintziels gefördert hat und was das Team behindert hat. Aber bei der Ableitung von Maßnahmen, wie die Zusammenarbeit in Zukunft verbessert werden kann, kommt keine Diskussion zustande und jeder bleibt gefühlt für sich.
In dem Beispiel wird deutlich, dass es mehrere Ansatzpunkte gibt, um die Zusammenarbeit im Team zu verbessern. Einer der Ansatzpunkte ist die Aktivierung der Gruppe, wenn es um die Erarbeitung von Maßnahmen geht. Die Problematik im hier skizzierten Beispiel ist, dass es nicht zu einem konstruktiven Austausch innerhalb des Teams kommt, durch den sich alle beteiligen und damit auch alle (mit-)verantwortlich für die Umsetzung fühlen. Hierfür bietet sich die Liberating Structure „1-2-4-all“ an. Der Scrum Master formuliert aus dem erkannten Verbesserungsbedarf eine Frage, zum Beispiel „Welche Maßnahmen würdest Du vorschlagen, um die Erreichung des Sprintziels sicherzustellen?“. In einer ersten Runde schreibt sich zunächst jede:r für sich die eigenen Ideen auf. In der zweiten Runde tauschen sich die Teilnehmenden in Paaren über ihre Ideen aus und entwickeln diese weiter. Die Ergebnisse der zweiten Runde werden anschließend in Vierergruppen weiter detailliert, Gemeinsamkeiten zusammengeführt und Unterschiede herausgestellt. Jede Vierergruppe entscheidet am Ende, welche Idee besonders bemerkenswert, besonders vielversprechend erscheint und stellt diese in der Gesamtgruppe vor. Analog zum Namen der Liberating Structure stehen für die erste Runde 1 Minute, 2 für die nächste und 4 Minuten für die dritte Runde zur Verfügung. Und wenn eine Runde nicht ausreicht, um entsprechend tiefen Einsichten und Maßnahmen zu generieren, lässt sich jede Runde wiederholen. Das Ziel dieser Methode ist, dass sowohl alle Teilnehmenden ihre Ideen einbringen können und müssen als auch ein Austausch innerhalb der Gruppe stattfindet. Die so gemeinsam erarbeitete und priorisierte Maßnahme wird im nächsten Sprint umgesetzt.
Das Team aus dem Beispiel würde außerdem davon profitieren, wenn es einen Raum bekommt, um sich gegenseitig besser kennenzulernen. Wenn nicht genügend Zeit für einen ausgiebigen Kennenlern-Workshop zur Verfügung steht, könnte der „Chatterfall“, das ist die digitale Variante der „Mad Tea Party“, Abhilfe schaffen. Ursprünglich wurde die Methode für Gruppen ab 10 Personen entwickelt, um beispielsweise eine gemeinsam erlebte Situation zu reflektieren und zu verarbeiten. Dafür werden Satzanfänge vorbereitet, die durch die Teilnehmenden spontan beantwortet werden. Empfehlenswert sind 10-15 Sätze, die in einer sinnvollen, aufeinander aufbauenden Reihenfolge aufgebaut werden. Die Assoziationen, die dabei ausgetauscht werden, sind spontan und authentisch. So bringen sie Unbewusstes an die Oberfläche, ermöglichen tiefere Einblicke und strategische Erkenntnisse. Für ein gegenseitiges Kennenlernen werden die Satzanfänge entsprechend formuliert. „An unserem Produkt begeistert mich besonders, dass…“, „Neben meinem fachlichen Know How ist meine Superpower…“, „An unserer bisherigen Zusammenarbeit schätze ich besonders, dass…“, „Meine Freund:innen glaube, dass ich…“. Der Fantasie sind dabei keine Grenzen gesetzt. In der digitalen Variante werden die Satzanfänge in den Chat gestellt. Jede:r bekommt 30 Sekunden Zeit, seine Antwort einzutragen, ohne sie jedoch gleich abzuschicken. Wenn die Zeit abgelaufen ist, senden alle auf ein Signal gleichzeitig ihre Antwort ab. Dann bekommen die Teilnehmenden max. 2 Minuten Zeit, sich die Antworten durchzulesen, bevor es mit dem nächsten Satzanfang weitergeht.
Mit kleinen Schritten zur Beteiligung
Die Liberating Structures sind so konzipiert und aufbereitet, dass jede:r sie ohne intensive Schulung oder besonderes Know How einsetzen kann. Und obwohl einige der Schritte sehr klein erscheinen, können die Methoden eine deutlich spürbare Veränderung und Verbesserung bewirken. Denn die zunächst ungewohnte Vorgehensweise zwingt die Beteiligten, sich einem vielleicht sogar über einen längeren Zeitraum festgefahrenen Thema aus einer anderen Richtung zu nähern. Damit das gelingt, helfen klare Strukturen und kleine Schritte, die jede:r bewältigen kann. Und je öfter man die Arbeitsweise übt, umso kreativer und effektiver wird der Prozess.